Woche 1 in La Barra de Santiago
Ich lande in San Salvador und ein Teppich feuchter, föhnwarmer Luft legt sich auf meinen Körper, um von diesem Moment an wie eine zweite Haut nicht mehr von mir zu weichen.
Edgar, seinerseits ein treuer Freund der Organisation und betraut mit dem Trasport, fährt mich mit stoischer Gelassenheit durch einen Platzregen, der in Sekundenschnelle alle Schlaglöcher El Salvadors füllt und durch die lecken Fensterscheiben ein fröhliches Rinnsal bildet.
Bei meiner Ankunft erwartet mich bereits, triefend wie der sprichwörtliche begossene Pudel, Zahnarzt Dr. Erick, mit welchem ich in trauter Zweisamkeit ein Badezimmer und eine papierdünne Wand teile. Dieser erste Willkommensakt wird eine von unzähligen Hilfestellungen sein, mit denen er mir hier das Leben deutlich leichter macht und die mit zu einer Freundschaft beitragen, die ich meinerseits mit neugierigen Fragen, Geschichten aus der Heimat und langen Strandspaziergängen zu bereichern suche.
Darlin, von der Allgemeinheit als einzige ihrer Art nur als „Doctora“ bezeichnet, heißt mich ebenfalls mit einer Selbstverständlichkeit willkommen, die mir von Anfang an alle Fremdheit nimmt und mir das Gefühl gibt, ein Teil eines großen Ganzen zu sein.
In der ersten Woche begleite ich sie auf Schritt und Tritt, sitze mit ihr im Consultorio, wenn sie Patienten empfängt, begleite sie auf Hausbesuche, stelle viele Fragen und erhalte viele Antworten.
Ich habe mitgezählt, sie kümmert sich an einem Vormittag im Schnitt um 18 Patienten mit den unterschiedlichsten Gründen, sie aufzusuchen; von Kontrolluntersuchungen bei Schwangeren und Kindern, über Patienten mit chronischen Erkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck, Asthma und Migräne bis hin zu Notfällen wie bluterbrechende, fieberkrampfende Menschen oder Kuriositäten wie unerwünschten Gegenständen (Wattebäusche, Streichhölzer, Insekten) in Gehörgängen ist alles dabei.
Und obwohl es sich bei Darlin um eine junge Frau handelt, die gerade erst das Studium abschließt und erstmals ohne Supervision arbeitet, handhabt sie die Verantwortung der Unidad-Leitung mit Gelassenheit, Pragmatismus, Empathie und einem ansteckenden Lachen.
Da ich es mir in meiner Pionier-Rolle als erste Austauschstudentin in La Barra de Santiago zur Aufgabe gemacht habe, in den ersten Tagen zunächst sowohl das Team der Unidad de Salud als auch die Comunidad mit den Menschen, die in ihr leben, kennenzulernen, übe ich mich im aufmerksamen Beobachten, Fragenstellen und Zuhören um zu ermitteln, wer welche Verantwortung trägt, welche Probleme höher frequentiert aufzutreten scheinen als andere, welche Maßnahmen bereits implimentiert wurden und gut laufen sowie welche Gruppe innerhalb der Comunidad sich am besten für ein Public Health Projekt eignet.
Im Zuge dessen erfahre ich nach und nach, dass in der Unidad de Salud eine Ärztin, ein Zahnarzt, zwei Krankenpfleger, eine Sekretärin, ein Pharmazeut, der Fahrer des Krankenwagens sowie drei Promotores de Salud arbeiten. Die Promotores betreuen je um die 100 Familien, ihre Tätigkeiten bestehen in Kontrollbesuchen bei Schwangeren, Impfungen von Kindern und Hunden und Informationsveranstaltungen zu schwer kontrollierbaren Krankheiten wie Dengue-Fieber und Zika-Virus, Tuberkulose und Cholera.
Reina, eine starke Frau mit einem sehr hohen Arbeitsethos, die sich aufgrund ihrer Arbeit als Promotora großer Bekanntheit und Beliebtheit unter den Bewohnern von La Barra erfreut, hat mich gleich zu Beginn meines Aufenthalts als ihre „muñequita“ (zu deutsch: Püppchen) adoptiert und legt seitdem alles daran, mir so viel wie möglich zu zeigen, sei es medizinischer, sozialer, geographischer oder kulinarischer Natur.
Neben den acht Stunden, die wir uns am Tag in der Unidad aufhalten, verbringen wir in dieser Vierer-Konstellation auch die meisten Mittagspausen, in lustige Abende nahtlos übergehende Nachmittage sowie die Wochenenden zusammen. Die meisten Mahlzeiten nehmen wir zusammen ein, besuchen den Nationalpark „El Imposíble“, führen unzählige ausgelassene Gespräche und leben in allen Aspekten der zwischenmenschlichen Interaktion den kulturellen Austausch.
Zudem werde ich mitgenommen zu einer Fortbildung nach Santa Ana, wo ich vormittags die administrative Komponente des Gesundheitswesens und nachmittags die imposante Kathedrale sowie das Theater kennenlerne.
Ein Besuch der Unidad de Salud in El Zapote, in welcher man bereits Erfahrung mit dem Public Health Austausch hat und sich auch momentan zwei deutsche Austauschstudentinnen aufhalten, um ein bereits initiiertes Psychoedukationsprojekt weiterzuführen, verbessert nicht nur meine Ortskenntnisse und belohnt mich mit frischem Kokoswasser, sondern fördert die Fluktuation von Ideen zwischen den beiden Ortschaften und gibt mir, dank Dr. Alejandro, viele hilfreiche Informationen und Anregungen mit auf den Weg zurück nach La Barra.
Dort führt eine Beobachtung, die ich sowohl bei den Patienten der Unidad als auch im Alltag in der Comunidad mache, dazu, dass ein Gedanke Gestalt annimmt und sich ein Projektentwurf aus den vielen Ideen emanzipiert.
Übergewicht
…ist das erste, offenkundige Problem, was eine bedeutende Mehrheit der ansonsten völlig unterschiedlichen Fälle gemein haben. Ob Schwangere, ob Familienvater, ob Seniorin, ob Kleinkind… Fast bei jeder Konsultation, welche die Doctora hält, ist mindestens eine Person zugegen, die bereits mit bloßem Auge als übergewichtig identifiziert werden kann - wenn nicht Patient, dann Begleitperson.
Meistens allerdings sowohl als auch.
Der Grund für die vielen überflüssigen Kilos ist offenkundig; es wird oft drei Mal am Tag warm gegessen, wobei die Mahlzeiten in der Regel zu ca. 80% aus Kohlenhydraten bestehen, welche zu allem Überfluss in Fett ertränkt werden - Nahrungsgrundlage sind Mais, rote Bohnen und Reis. Zu besagten Mahlzeiten gibt es statt Wasser meist Cola, Energy-Drinks oder „Jugos“. Letztere sind besonders hinterlistig, da sie sich als Fruchtsaftgetränke ausgeben, mit zahlreichen Vitaminen und gesundheitsfördernder Wirkung werben und dabei letztlich in erster Linie auf Wasser, Zucker und Farbstoffen basieren. Die zahlreichen süßen Gaumenfreuden wie Eis und Pan Dulce, sowie frittierte Kleinigkeiten wie Empanadas und Co. tun ihr Übriges.
Als ich die Beobachtung bei Darlin anspreche, reagiert sie aufgeregt: ja, das sei ein sehr gravierendes Problem! Es verursache zum Beispiel Bluthochdruck bei Schwangeren und Typ 2 Diabetes bei Erwachsenen. Der erhöhte Zuckerkonsum bedinge Karies bei Kindern und ein allgemein erhöhtes Infektionsrisiko, da Bakterien in einer zuckerreichen Flora besser überleben.
Da die Unidad nur eine Gesundheitseinrichtung und kein Krankenhaus ist, der es an den meisten Medikamenten fehlt und deren Ansatzpunkte in erster Linie in Prävention oder Symptomlinderung bestehen, gilt es, all jene Krankheiten, deren Behandlung mit hiesigen Mitteln nicht möglich ist und deren Auftreten durch eine gesunde Lebensweise mit ausgewogener Ernährung und Sport reduziert werden kann, im Keim zu ersticken.
Als ich vorschlage, das Problem des Übergewichts zum Kern meines Projektes zu machen, stößt die Idee auf Einklang unter den Mitarbeitern der Unidad. Wir konzipieren weiter, dass es am sinnvollsten sei, mit den Kindern und Jugendlichen der Escuela zu arbeiten. Auf diesem Wege schlüge man zwei Fliegen mit einer Klappe, wobei es sich bei den beiden Fliegen um die zwei Tatsachen handelt, dass erstens bei der jungen Bevölkerung das Problem überhaupt erst entsteht, und diese zweitens am unvoreingenommsten für eine fruchtbare Zusammenarbeit ist.
Das Projekt wird umgehend dem Direktor der Schule vorgestellt, einem rüstigen Mittfünfziger voller Elan, der sofort Feuer und Flamme ist und mit dem ich nun einen Whatsapp-Chat unterhalte, um künftige logistische Angelegenheiten abzustimmen und schnell in die Wege zu leiten.
Die ersten Schritte werden darin bestehen, eine Datenerhebung vorzunehmen, indem die gesamte Schülerschaft mit Gewicht, Körpergröße und Alter erfasst wird. Die Auswertung dieser Daten anhand gängiger Grafiken soll einem fixen Zahlenwert dienen, welcher einen repräsentativen und fundierten Eindruck des Problemausmaßes vermitteln soll.
Nächste Woche folgen dann auf Basis der Resultate Interventionen, welche das Problem des Übergewichts in Angriff nehmen sollen und sich mit Informationsveranstaltungen, Bastelaktionen, Sportangeboten und einer Feierlichkeit sowohl an die betroffenen Kinder als auch an die dazugehörigen Familien richten soll.
Da eine jede gute Geschichte mit Fortsetzung eines gebührenden Cliffhangers verlangt - weitere Infos zu Projekt und Erfahrungen folgen im nächsten Eintrag!